Lieber begrenzt, dafür aber sauglücklich?

  • “Diese Geschichte beginnt am 16. Mai 2012, einem prächtigen Frühlingstag, dem Tag vor Himmelfahrt. Ich war zu Hause, als es plötzlich an der Tür klingelte, einmal, zweimal, Sturm. Normalerweise passiert nicht viel in unserer ruhigen Wohngegend im Südwesten Berlins. Jetzt hielt jemand die Klingel gedrückt, ein schriller Dauerton, der nichts Gutes verhieß.
    Am Gartentor stand Lea, die Sechzehnjährige von nebenan. Das Handy am Ohr, sprang sie auf der Straße herum wie ein verwundetes Tier. Während sie zusammenhangslos ins Telefon schrie, winkte sie mich hinüber ins Haus und ins Wohnzimmer hinein. Dort lag ihr Vater merkwürdig verzerrt auf der Couch, Holger, halb verhüllt von einer verrutschten Wolldecke. Sein Gesicht hatte eine blaugraue Farbe, wie von einem enormen Bluterguss (...)
    Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dann wurden mir die Knie weich. Holger, ein Mann von Anfang fünfzig, so alt wie mein eigener Mann, lebte nicht mehr? Holger, der mir eben noch – das Basecap auf dem Kopf und eine Zigarette im Mundwinkel – nachbarschaftlich über die Hecke zugewinkt hatte: Hey, alles cool bei dir? (...)
    Als Holger starb, war ich 47. Bis dahin stellte ich mir unter Sterben nicht viel vor, es war ein abstrakter Begriff. Eins von diesen unangenehmen Themen für später, wenn man alt ist.” Zeitmagazin Nr. 35/2015.
    Was lässt sich mit einer Gesellschaft anfangen, in der selbst Akademiker und Meinungsmacher derart begrenzt sind in ihrem Urteilsvermögen, dass das
    Sterben für sie persönlich nur ein abstrakter Begriff ist?

    "Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen, die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, April und Mai und Julius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!" Friedrich Hölderlin.

  • Begrenzt ist man doch immer in bezug auf etwas, solange man mit dem Thema nicht persönlich in Berührung kam. Und mit persönlich meine ich auch gefühlsmäßig.


    Und selbst dann ist der selten beobachtete Tod mit persönlichem Bezug(z.b. von Freunden, Familienmitgliedern) anders, als der häufig beobachtete Tod mit beruflichem Bezug (Krankenhausmitarbeiter, Hospizpersonal, Bestatter, etc.), der eigene Tod nochmal was ganz anderes als der beobachtete Tod ("Sterben ist gar nicht schwer, hat bisher noch jeder geschafft" Norman Mailer) und das Bewusstsein des Todes nicht zwingend etwas Bedrückendes.
    Siehe das christliche "memento mori" oder die "Santa Muerte" in Südamerika.
    Erst das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit, macht jede Sekunde des Lebens zu etwas Einzigartigem, das man voll auskosten sollte (es könnte jede Sekunde vorbei sein).
    Traurig ist der Tod für die Hinterbliebenen, weil jemand fehlt, der vermisst wird. Aber für den Verstorbenen selber...
    Und vielleicht ist es eine Eigenart der deutschen Gesellschaft (ich bin ja keine "richtige" Deutsche) alles so zu verkopfen und zu rationalisieren, dass kein Platz mehr bleibt für das Mystische, jenseits des Verstandes wohnende, vielleicht wirft der kollektive Akademiker-Atheismus oder manchmal auch Hedonismus hier (so sieht es für mich von außen zumindest manchmal aus) mehr Fragen auf, als er beantwortet, obwohl es im ersten Moment genau andersherum aussieht.


    Das sind zumindest die Gedanken, die ich dazu habe.

    ...i've got the final judgement...

  • Was lässt sich mit einer Gesellschaft anfangen, in der selbst Akademiker und Meinungsmacher derart begrenzt sind in ihrem Urteilsvermögen, dass dasSterben für sie persönlich nur ein abstrakter Begriff ist?

    Alles persönliche, wichtige, wozu eben auch so existenzielle Dinge zählen wie der Tod, das Sterben, Trauern; aber auch die "positiveren" Sachen wie der Umgang mit Freunden, Partnern, das Zusammensein, das Aufziehen der eigenen Kinder, schlicht das Erleben von Leben, das alles steht dem Ziel und Sinn dieser Gesellschaft empfindlich im Weg: lebendige Maschinen zu unterhalten, die brav den oberen 10% die Kontostände erhöhen gehen. Letzteres ist das einzige Ziel dieser ganzen Ordnung hier.
    Oder auf Neudeutsch formuliert: "wir" betreiben ein sehr effizientes Outsourcing: die Betreuung unserer Alten, Schwachen, übernehmen gebündelt andere; das Aufziehen und Erziehen unserer Kinder übernehmen gebündelt in größten Teilen andere. Warum? Damit wir mehr Zeit haben, anderen, wenigen, die Kontostände erhöhen zu gehen. Das eigene Leben? Existiert nach Feierabend für ein paar Stunden. Vom Tag bleibt vielleicht ein Achtel für uns selber übrig, wenn das überhaupt mal hinkommt. Wie war der Satz mit den Sklaven...?


    Zusammengefasst lässt sich feststellen, um im modernen Sprachgebrauch zu bleiben: working as intended.

    Gegenwart: Jener Teil der Ewigkeit, der den Bereich der Enttäuschung von jenem der Hoffnung scheidet.

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