Ich schreibe schon seit früher Kindheit, aber das meiste taugt leider nicht dazu, von irgendwem außer mir gelesen zu werden. Eine Geschichte hab ich aber, von der ich den Anfang gut finde und deshalb "veröffentlichen" kann. Leider fällt mir seit Jahren nicht wirklich was dazu ein, wie ich über Kapitel 4 hinauskomme :D Falls jemand Ideen hat, immer her damit! :)
Erst mal lieber nur die ersten beiden Kapitel. Tut mir leid, dass man das in dem Format so schlecht lesen kann!
Kapitel 1
Jarin duckte sich tiefer in die Schatten unter dem Tisch des Händlers. Die Füße waren direkt vor ihm stehen geblieben, und wenn er jetzt eine falsche Bewegung machte, würde man ihn sofort entdecken. Doch er hatte nicht so lange hier unten ausgeharrt, um jetzt seine ganzen Bemühungen zunichte zu machen.
Er sah wieder zu dem Stand ihm gegenüber. Der Händler dort feilschte gerade mit einem Kunden und trieb die Preise unmenschlich hoch. Das konnte er tun, weil er der Einzige war, der Creeb verkaufte: riesige Krustentiere, die oft nur unter Einsatz des Lebens gefangen werden konnten. Nur er bekam die Leute, die sich dafür zu opfern bereit waren. Niemand wusste, wie, aber es beneidete auch keiner die Arbeiter, die von ihm angeheuert wurden. Viele kamen nicht zurück.
Aber Creeb waren unheimlich lecker. Wer einmal davon gekostet hatte, kam kaum noch davon weg. Böse Zungen behaupteten, dass er heimlich etwas in seine Ware tat, damit die Leute sie trotz seiner Preise kauften, doch bis jetzt hatte noch keine Untersuchung diese Behauptung bestätigt.
Die Füße vor Jarin verschwanden, und er hockte sich anders hin. Seine Beine begannen, einzuschlafen, und bei dem, was er vorhatte, konnte das tödlich werden. Er war zwar einer der besten Diebe der Stadt und das, was er vorhatte, im Verhältnis dazu eigentlich zu einfach, aber im Leben eines Gassenjungen legte man weder viel Wert auf Ruhm noch auf Logik. Und heute war Tayas sechster Geburtstag, da musste etwas Besonderes her – zum Beispiel eine der Luxuswaren der Stadt.
Da! Der Creebhändler wandte sich ab, um seine Ware auf den Tischen mit seinem Vorrat aufzustocken. Auf diese Gelegenheit hatte Jarin gewartet. Blitzschnell kam er unter dem Tisch hervor und war auf den Beinen. Bevor die Leute vor Überraschung auch nur aufschreien konnten, war er schon auf den Creeb-Stand zugerannt. Der Händler wandte sich wieder um und entdeckte Jarin sofort. In seinem Gesicht breitete sich zuerst Erschrecken, dann Wut aus, als er ihn erkannte. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, während er auf Jarin zusprang, doch dieser war schon zu nah. Im Vorbeirennen und ohne zu bremsen griff er nach einem kleineren, bei Kunden eher unbeliebten Stück, und raste weiter. Der Händler hinter ihm kam schwer auf seiner Ware auf, brachte damit den Tisch zum Wackeln und schließlich zum Einstürzen. Die Ware ergoss sich auf den Boden, und der Händler lag wie eine fette Qualle mittendrin. Dieser Schaden war unbezahlbar. Wenn Jarin jetzt erwischt wurde, war er tot. Niemand würde einen Gassenjungen vermissen, und der Händler würde natürlich alles abstreiten - falls er überhaupt gefragt wurde.
Der Händler hatte sich aufgerappelt und machte sich nun schweratmend an die Verfolgung. »Du entkommst mir nicht!«, brüllte er. »Nicht schon wieder! Und schon gar nicht mit meiner Ware! Die ist für anständige Leute, nicht für Abschaum wie dich!«
Jarin ließ ihn brüllen und Flüche und Verwünschungen ausstoßen. Er wusste, dass er die Luft eher zum Atmen als zum Schreien brauchte, und die Flüche, die ein mehr oder weniger ehrlicher Händler ausstieß, kamen bei weitem nicht an das heran, was Gassenjungen gewöhnt waren.
Er bog um eine Ecke und in eine kleine, enge Gasse, in der die Wäscherinnen ihre Wäsche auf Leinen quer über die Gasse zum Trocknen aufgehängt hatten. Einige dieser Stücke hingen fast bis zum Boden und behinderten Jarins Flucht, doch er war wendig und für seine 13 Jahre recht klein, sodass es ihn nicht allzu sehr störte. Zumindest nicht so wie den dicken Händler, der ihm für seine Masse erstaunlich schnell auf den Fersen war.
Jarin flitzte weiter, obwohl ihn der schwere Brocken in seinen Händen behinderte. Seine Beine wurden schon lahm, er hatte zu lange nichts mehr gegessen. Der Brocken in seinen Händen duftete verführerisch, doch er zwang sich, sich auf seine Füße zu konzentrieren. In solchen Gassen gab es viele Löcher, und die meisten davon waren mit dem beim Waschen benutzten Wasser vollgelaufen. Wenn man nicht aufpasste, lief man in eine Pfütze, die flach aussah, aber oft so tief war, dass man ins Stolpern geriet oder sogar fiel.
Aus einer Gasse links von ihm bemerkte er eine schnelle Bewegung. Er konnte gerade noch so ausweichen und sah, dass es Eono war, ein weiterer Gassenjunge, der sich ebenfalls auf der Flucht befand. Auch Eono erkannte ihn und schenkte ihm im Vorbeilaufen ein grimmiges Lächeln. Dann konnten sie sich nicht mehr sehen und hatten sich im selben Moment auch schon wieder vergessen.
Das Keuchen hinter ihm war wieder lauter geworden und Jarin zwang sich, seine müden Beine wieder schneller fortzubewegen. Langsam musste er zusehen, dass er seinen Verfolger los wurde. Er war hungrig und schwach und würde nicht mehr lange durchhalten können. Schnell ging er im Kopf mögliche Verstecke durch und verwarf sie alle wieder. Sie waren zu weit weg, zu tief im Gewirr der Gassen. Er musste etwas Näheres finden.
Schlitternd bog er um die nächste Ecke. Verdammt! Hier waren lauter Stände mit Gemüse aufgebaut. Jarin wollte gerade wieder zurück, als er sah, dass der Händler ihm den Weg schon versperrt hatte. Dann musste er wohl hindurch. Doch auch das war gefährlich, denn aus offensichtlichen Gründen hatte keiner der Händler etwas für die Gassenkinder übrig. Die ersten sahen ihn auch schon missbilligend an, als er weiterrannte, doch keiner hielt ihn auf, solange er ihren Ständen nicht zu nahe kam. Doch dann passierte es: Einen mitten im Weg aufgebauten Stand sah er zu spät und rannte mit so viel Wucht hinein, dass er mitsamt Tisch und Waren umkippte. Seine Beute wurde ihm dabei aus der Hand gerissen.
Er rappelte sich auf und sah sich hektisch um. Wo war sie? Der Händler kam immer näher! Doch da stolperte dieser und legte sich ebenfalls auf die Nase. Jarin blieb noch ein bisschen Zeit. Und ja, da war ja sein Stück Creeb! Eilig bahnte er sich einen Weg durch das zermatschte Gemüse und die Bretter des ehemaligen Standes.
Ein älterer Mann trat auf den Händler zu und half ihm auf die Beine. »Warum verfolgt Ihr das arme Kind?«, wollte er wissen. Der Händler starrte ihn an. »Weil er mich bestohlen hat, schon zum dritten Mal. Und diesmal wird er nicht entwischen!«
Der Alte nickte bedächtig. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich Euch helfe?«
Der Händler musterte den Alten ungläubig, zuckte dann jedoch die Schultern. »Wenn Ihr wollt…«
Jarin hatte inzwischen sein Creeb-Stück erreicht und kämpfte sich schnell aus dem großen Haufen, denn der Händler nahm nun wieder, zusammen mit seinem neuen Mitstreiter, die Verfolgung auf.
Jarin rannte, was das Zeug hielt, doch diesmal ließ der Händler sich nicht so leicht abschütteln. Schließlich hatte Jarin fast eine ganze Tagesration zerstört und den Stand dazu, das machte bestimmt einige tausend Galeonen. Diese sollte Jarin mit seinem Leben bezahlen.
Doch er war noch nicht bereit zu sterben, also legte er noch mal einen Zahn zu und merkte, wie der Händler endlich zurückfiel. Ein paar Ecken später schlüpfte Jarin in einen Hauseingang und wartete. Er war sich ziemlich sicher, seine Verfolger abgehängt zu haben, doch er ging lieber auf Nummer sicher. Als nach ein paar Minuten der Händler immer noch nicht zu sehen oder zu hören war, stand Jarin vorsichtig auf und mischte sich unauffällig unter die Menschenmenge. Nun, zumindest wollte er es, doch er erstarrte, als er den alten Mann, der dem Händler bei der Verfolgung geholfen hatte, direkt vor sich stehen sah. Panisch sah er sich nach dem Creeb-Händler um, sicher, gleich darauf sterben zu müssen.
»Keine Sorge«, sagte der Alte jedoch und lächelte sogar. »Pore hat schon vor fünf Ecken aufgegeben.« Er bemerkte Jarins Verwirrung und erklärte: »Der Creeb-Händler, der dich verfolgt ha,t weil du seinen Tageslohn und dazu noch seinen Stand zerstört hast, weil du ihn das dritte Mal bestohlen hast und weil du ihn vor seinen Kunden bloßgestellt und-«
»Schon gut!«, stoppte Jarin ihn mit hochrotem Kopf. Wie der Mann das so aufzählte, klang es ganz schön gemein. Aber Gassenkinder hatten nicht viele andere Möglichkeiten zu überleben. Das erklärte er dem Mann auch, der daraufhin lächelnd nickte. »Ich verstehe dich. Nun, jedenfalls ist er wieder zurückgekehrt und hat es mir überlassen, dich zu finden.«
»Und was macht Ihr jetzt mit mir?«, wollte Jarin nervös wissen.
»Setz dich«, befahl der Mann. Jarin gehorchte zögernd und hockte sich auf eine Türschwelle. Das lief definitiv anders, als er erwartet hatte.
»Wie heißt du, Junge?«
»Jarin«, sagte Jarin.
»Hallo, Jarin, ich bin Dohan, Sohn von… ach, ist ja auch egal. Jedenfalls bin ich Mitglied in der Gemeinschaft und-«
»In der Gemeinschaft?«, unterbrach Jarin ihn fassungslos. »Der Gemeinschaft der Magier?«
»Das ist korrekt«, lächelte Dohan. »Und ich wurde ausgeschickt, dich zu suchen. Beziehungsweise zu finden.«
»Mich?«, erwiderte der Junge verwirrt. »Warum?«
Dohan ließ sich ätzend neben Jarin auf der Türschwelle nieder. »Das Schöne an Gassenjungen ist, dass sie immer die wichtigsten Fragen stellen. Na, egal. Warum? Weil wir junge Leute brauchen, Leute mit magischer Begabung. Und du bist so einer, Jarin.«
Jarin schwieg und versuchte, das zu verarbeiten. Er, ein einfacher Junge aus den Gassenvierteln, wenn auch der beste Dieb der Stadt, sollte magisch begabt sein? Dann fiel ihm etwas auf. »Heißt das… Heißt das, dass ich eigentlich gar nicht der beste Dieb der Stadt bin, sondern alles nur mithilfe von Magie geschafft habe?«
»Das kann ich dir leider nicht beantworten, da ich nicht sagen kann, wie lange du deine Magie schon gebrauchen kannst. Vielleicht hat sie dir geholfen, aber vielleicht ist auch alles dein persönlicher Verdienst.« Er grinste. »Nicht, dass ich Diebe unbedingt gern habe, aber bei dir mache ich mal eine Ausnahme.«
»Aber ich weiß doch gar nicht, wie man Magie gebraucht!«
»Wirklich gebraucht hast du sie ja auch noch nicht. Sie hat dir nur geholfen, hat dich schneller gemacht oder etwas in der Art. Wahrscheinlich kannst du deshalb so schnell rennen.«
»Wie habt Ihr mich überhaupt gefunden? Dann müsst Ihr ja ebenso schnell gelaufen sein!« Bei der Vorstellung, dass der alte Mann in seinem Tempo hinter ihm her gerast war, musste er ein Grinsen unterdrücken.
"Weißt du, Junge, Magie ist etwas sehr Mächtiges, und wenn man sie nicht kontrollieren kann, kann es passieren, dass sie Sonderbares anstellt. Vor allem bei unerfahrenen Magiern wie dir. Die Magie bei dir ist so mächtig, dass dein Körper sie von alleine nicht mehr aufhalten kann. Ununterbrochen tritt ein wenig davon aus ihm aus, und fähigere Magier wie ich – auch wenn ich bei Weitem nicht der Beste bin – können diese Magie dann wahrnehmen. Du hast mir also eine eindeutige Spur hinterlassen, der ich nur zu folgen brauchte."
ODER
"Jeder Magier hat eine ganz eigene Spur, eine Art Geruch, die Magier untereinander erkennen können. Da diese sich umso länger hält, je mächtiger besagter Magier ist, konnte ich deiner Spur ganz gemächlich folgen. Du bist für dein Alter sehr mächtig, Jarin.«
Jarin schwieg. »Und was passiert jetzt mit mir?«, wollte er dann zaghaft wissen.
»Das liegt an dir. Die Gemeinschaft braucht natürlich junge Magier und würde sich sehr über dich freuen, aber wenn du nicht möchtest, gehe ich einfach und habe dich nie gesehen. Allerdings muss ich dir deine Magie dann entfernen, damit du sie nicht mehr benutzen kannst.«
»Wieso?«
»Die Gemeinschaft der Magier ist einzigartig in ihrer Art und Weise. Und das kommt nicht von ungefähr: Seit Jahrhunderten kämpfen wir darum, die einzige Schule zu sein, die Magie unterrichtet. Wenn du nun allein mit deiner Magie durch die Gegend läufst, könnten sich Leute sammeln und dir folgen und vielleicht sogar einen Krieg gegen die Gemeinschaft führen wollen. Das wollen wir natürlich verhindern.«
Jarin starrte ihn mit offenem Mund an. »Warum sollte jemand so etwas tun wollen?«
Dohan lachte. »Du hast mehr Fragen als irgendwer sonst, den ich kenne. Das ist gut, das ist gut«, versicherte er dem Jungen lächelnd, als dieser beschämt den Kopf sinken ließ. »Um auf deine Frage zurückzukommen – wir haben festgestellt, dass es so das Beste ist, mit unserer Schule als einziger, meinte ich. Über die Jahrhunderte gab es immer mal wieder Gruppen, die ihre eigene Lehranstalt aufmachen wollten, doch die hielten nie lange. Oft waren ihre Magier zu schlecht ausgebildet, wanderten dann ziellos durch die Gegend und taten, was sie wollten – sie hatten eben mehr Macht als »normale« Menschen. Also sind wir – beziehungsweise unsere Vorfahren – losgezogen, um sie einen nach dem anderen zu…« Er zögerte. »…daran zu hindern«, schloss er dann. Jarin sah ein wenig verächtlich zu ihm hoch. »Ich lebe in den Gassen«, sagte er. »Tod ist nichts wirklich Ungewöhnliches hier, genauso wenig wie Mord.«
Dohan nickte ein wenig beschämt. »Du hast recht. Es tut mir leid. Normalerweise sind die Kinder, mit denen ich es zu tun bekomme, nicht so… reif. Jedenfalls hatte die Gemeinschaft irgendwann genug davon, immer die Fehler der anderen wieder gut zu machen, und schrieb ein allgemeines Verbot aus, dass noch Schulen neben unserer existieren durften. Bei der natürlich folgenden Versammlung vor dem König gab es viel Protest, doch das Argument unserer Schule war vernichtend: Bei uns hatte es noch nie jemanden gegeben, der anderen Menschen so viel Schaden zugefügt hatte, wie die Menschen anderer Schulen es getan hatten.«
»Warum nicht?«, wollte Jarin wissen. »Warum machen die anderen Menschen das, aber die aus der Gemeinschaft nicht?«
»Weil wir ganz besondere Lehrpläne haben. Wir erziehen nicht durch Strafe. Wir erziehen, indem die Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen. Diese sind nach schlechten Taten oft genug negativ, sodass sie, wenn sie unsere Schule verlassen dürfen, nichts wirklich Böses mehr machen möchten. Zudem lehren wir sie gute Sachen wie Mitgefühl, Verständnis und auch praktische Sachen, zum Beispiel Medizin. Ein weiterer Vorteil ist, dass wir Kinder aus allen Schichten aufnehmen, sodass niemand sich bevorzugt fühlen kann. Anfangs schon, das gebe ich zu, aber im Erwachsenenalter haben das alle dann abgelegt. Die meisten ehemaligen Feinde sind dann sogar sehr gute Freunde«, schloss er und knuffte Jarin freundlich in die Seite, als er sah, dass Jarin durch seine Erzählung von überheblichen adeligen Kindern, die zum Alltag in der Gemeinschaft gehörten, ängstlich geworden war.
Eine Weile saßen sie schweigend da. Irgendwann stand Jarin auf. »Könntet Ihr mich dann von meiner Magie befreien?«
Überrascht sah Dohan ihn an. »Befreien? Aber wieso? Es ist ein wundervolles Geschenk, vielleicht habe ich es ein wenig zu dramatisch dargestellt, aber-«
»Das ist es nicht«, unterbrach Jarin ihn rasch. »Aber ich denke, da Ihr oder wer auch immer mich nicht hier in den Gassen unterrichten werdet, werde ich mit Euch kommen müssen, zur… zur Gemeinschaft der Magier.« Immer noch sprach er den Namen ehrfurchtsvoll aus. Zeit seines Lebens war es eher ein Gerücht als eine Tatsache, eher eine Legende, und er hätte sich nie träumen lassen, auch nur mal eins der Mitglieder zu sehen. Doch nun saß einer hier und bot ihm auch noch an, mit ihm in die Gemeinschaft zu gehen und Mitglied zu werden! Das war mehr, als er sich je von seinem Leben erhofft hatte, und er wusste, eine solche Chance bekam er nicht wieder.
Trotzdem konnte er nicht mitgehen. »Ich kann hier nicht weg. Ta- meine kleine Schwester, ich muss mich um sie kümmern. Ich kann sie nicht einfach zurücklassen!«
Dohan zögerte, doch dann nickte er. »Das verstehe ich. Darum biete ich dir an, sie einfach mitzunehmen. Sie kann bei dir wohnen, sie bekommt Essen und alles, was sie braucht, obwohl sie wahrscheinlich irgendwann dafür wird arbeiten müssen, aber das ist noch weit hin. Na, was sagst du?« Erwartungsvoll sah er den Jungen an.
Jarin war hellauf begeistert. Nie wieder hungern, nie wieder stehlen, nie wieder vor wütenden Händlern davonlaufen und um sein Leben fürchten müssen… es war ein Paradies.
»Ich muss das erst mit… mit meiner Schwester besprechen.«
»Gut, gehen wir zu ihr.«
Immer noch fassungslos über sein Glück rannte Jarin los, und erst als er sich nach einigen Ecken umblickte fiel ihm auf, dass der alte Mann nicht hinterher gekommen war. Ungeduldig wartete er. Schließlich tauchte Dohan keuchend neben ihm auf. »Ich muss schon sagen, du bist schnell. Zu schnell, leider; meine Knochen sind alt und morsch, mach ein wenig langsamer mit mir, ja?«
Jarin nickte brav und behielt seine Unruhe für sich.
»Gut«, lächelte Dohan, und sie machten sich gemeinsam wieder auf den Weg.
Kapitel 2
»Taya?« Jarin schob den Vorhang zu Seite, der ihr Versteck notdürftig vom Rest der Welt abtrennte. »Taya, du wirst nicht glauben, was für Nachrichten ich dir bringe! Wir kommen raus hier, endlich raus, wir kriegen Essen, so viel wir wollen, und-« Er erstarrte. »Taya?«, flüsterte er. Dann begann er zu schreien. »Taya, Taya, wach auf, sag doch was, Taya!« Doch sie rührte sich nicht. Sie war an genau dem Tag gestorben, an dem sie geboren war. Verhungert, als Jarin erfuhr, dass sie gerettet waren. Von ihm gegangen, als sich gerade alles zum Besseren wenden sollte. Fassungslos und tränenüberströmt starrte er den leblosen Körper an. Der Tod war ganz und gar nicht unbekannt in den Gassen, aber er hatte gedacht oder zumindest gehofft, dass er Taya am Leben erhielt mit dem, was er brachte. Auch er war nicht gerade dick, aber er lebte, während sie, für die er jahrelang die Verantwortung getragen hatte, ihm unter den Augen verhungert war. »Das ist nicht fair«, flüsterte er, »das ist nicht fair«, immer und immer wieder, immer lauter, bis er schrie, und er schrie sich seine Trauer und Verzweiflung von der Seele, während Dohan ihn behutsam hochhob und durch die Gassen trug, wo die Menschen hastig wegsahen und sich nicht um das Geschrei kümmerten. Später kamen sie durch die nobleren Viertel, in denen Dohan mehrfach angehalten wurde, bis er deutlich machte, dass er ein Mitglied der Gemeinschaft und in einem Auftrag unterwegs war.
Jarin war lange nicht mehr aus den Gassen herausgekommen und es hatte sich auch niemand darum geschert, was mit ihm geschah. Jetzt hatte er zum ersten Mal die Möglichkeit, sich die ganze Stadt anzusehen, in der er schon sein ganzes Leben lebte, aber es war ihm egal, so egal… alles egal. Wieso nur mussten die Götter so grausam sein und sie gerade heute sterben lassen? Ein Tag später, nur ein einziger Tag, vielleicht Stunden, und sie hätten sie gefunden und mit Essen vollgestopft und sie hätte ein langes und glückliches Leben führen können. Ein Tag!
»Das ist nicht fair!«, flüsterte Jarin abermals, dann senkte sich Dunkelheit über ihn.
Als er die Augen aufschlug, sah er an eine bunt bemalte Decke. Verwirrt versuchte er, zu erkennen, was abgebildet war, doch vor seinen Augen verschwamm immer wieder alles. Zerstreut wischte er sich darüber und merkte, dass sie feucht waren. Und plötzlich fiel ihm wieder ein, wieso: Taya war tot.
Er spürte einen so plötzlichen und so starken Schmerz in der Brust, dass er sich aufbäumte und den Mund aufriss, wie um zu schreien, doch vor Qual kam kein Laut hervor. Kurze Zeit später war es vorbei, er atmete heftig und weinte.
Ein Paar Schuhe erschien in seinem Blickfeld, dann kratzte ein Stuhl über den Boden, als er neben sein Bett gezogen wurde. Schwer ließ sich jemand darauf fallen, doch Jarin achtete nicht darauf. Taya, seine einzige Schwester, der einzige Mensch, dem er sich verbunden fühlte, hatte ihn verlassen und so einsam, so allein zurückgelassen. Er wusste nicht, was er alleine machen sollte. Er wünschte sich, er wäre seiner Schwester ins unbekannte Reich gefolgt.
»Nana, nun übertreib mal nicht gleich«, sagte eine Stimme aus Richtung des Stuhls. Sie kam Jarin bekannt vor, und als er sich umdrehte und über die Augen wischte, erkannte er den alten Mann von gestern wieder, Dohan hieß er. »Ich weiß, du bist traurig, aber dein Leben geht weiter, und darüber solltest du glücklich sein!«
Erneut traten dem Jungen Tränen in die Augen, doch Dohan sprach schon weiter: »Dir wurde das Leben geschenkt, und du hast noch so viel vor dir, dass du es jetzt nicht wegwerfen solltest. Lebe für deine Schwester mit! Genieße das Leben, jetzt, wo du weißt, wie schnell es vorbei sein kann. In Ordnung?« Als Jarin schwach nickte, lächelte er. »Schön. Dann zieh dich an, ich führe dich herum.«
»Wo sind wir?«, fragte Jarin, während er verwundert seine Kleidung musterte, die über dem Stuhl hing und sich nicht mehr an seinem Körper befand. Er trug eine leichte Wollhose, die ihm eigentlich nicht gehörte.
Dohan bemerkte seinen Blick. »Wir haben dir die Sachen gestern ausgezogen, da sie ziemlich dreckig waren. Auf die Schnelle haben wir leider nur die Hose, die du trägst, in deiner Größe gefunden.« Er nickte in Jarins Richtung. »Doch wenn ich das so überdenke, bin ich der Meinung, dass du erst ein Bad genießen solltest, bevor ich dich den neugierigen Blicken aussetze, nichts für ungut.«
Jarin schwieg. Er hatte in seinem ganzen Leben noch kein Bad genommen, außer manchmal im Fluss, und er fragte sich, was ihn in einem Haus erwartete, in dem es offensichtlich als unschicklich galt, ungewaschen durch die Gegend zu laufen.
Dohan hatte ihn schweigend beobachtet. Nun fragte er freundlich: »Was bedrückt dich, mein Junge?«
Jarin holte tief Luft. »Das alles hier. Es ist so anders! Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, ich hab doch mein ganzes Leben nur in den Gassen verbracht!« Bedrückt und verunsichert sah er auf den Boden. Er hatte schon öfter Jungs, die aus dem besseren Teil der Stadt kamen, beobachtet, und im Gegensatz zu ihm hatte nie einer ach nur ansatzweise dreckig gewirkt. Auch ihre Kleidung war immer sauber, und sie passten stets auf, dass sie nicht mit dem Dreck der Straßen in Berührung kamen. Auch ihre Sprache war anders, Jarin verstand die Wörter teilweise gar nicht. Und mit solchen Menschen würde er sich nun abgeben müssen? Wie sollte er das anstellen, wenn er sie nicht verstand?
Dohan lächelte. »Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich und ein paar meiner Freunde helfen dir, wenn du Hilfe brauchst, aber wir sind hier schließlich nicht an des Königs Hof, also sind wir auch nicht übermäßig bedacht auf höfliche Umgangsformen. Schon gar nicht bei einem Neuling aus… nun ja, aus einem anderen Teil der Stadt.«
Jarin sah auf, mit einem ganz ernsten Gesichtsausdruck. »Ihr wollt mich hier gar nicht haben, stimmt’s? Ihr nehmt mich auf, damit ich keine Gefahr bin, aber nicht, weil ihr an mir interessiert seid!« Ihm fehlten die nötigen Wörter, um auszudrücken, was er fühlte, doch Dohan schien ihn zu verstehen, und so fuhr er, immer lauter werdend, fort: »Normalerweise kümmert ihr euch doch auch einen Dreck um uns Gassenkinder! Wenn ich diese dämliche Magie nicht in mir hätte, würde ich euch genauso am Arsch vorbeigehen wie vor zwei Monden noch! Ihr würdet eher mit dem Stiefel nach mir treten als mich auch nur eines Blickes zu würdigen!« Ein plötzlicher Zorn hatte ihn erfasst, dem er kaum Herr werden konnte. Doch das wollte er auch gar nicht, er wollte nur weg, raus aus diesem Haus mit diesen Leuten, zu denen er auch bald gehören sollte und die er mit Respekt zu behandeln hatte, wo sie ihm doch noch nie Derartiges entgegengebracht hatten. Er fuhr herum und stürmte zur Tür, doch als er an der Klinke zog, tat sich nichts, auch nicht, als er dagegen drückte. Er versuchte es noch ein paar Mal, dann wandte er sich zornentbrannt zu Dohan um, der noch immer gelassen dastand und ihn beobachtete. »Lass mich raus!«
Der alte Mann wollte einen Schritt näher treten, doch als Jarin sich angriffsbereit duckte, gab er nach und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. »Das werde ich, Jarin, aber erst, wenn du dich beruhigt hast.« Jarin, dem Erziehung logischerweise fremd war und der höchstens angeschrien und beschimpft wurde, wenn er beim Stehlen gesehen worden war, kannte solche Verhandlungen nicht und es verwirrte ihn. Bedeutete das, dass der Mann, der große, erwachsene, mächtige Mann, es quasi ihm überließ, ob er nun tat, was er wollte, oder nicht? Andererseits komme ich hier sonst nicht mehr raus, gestand er sich ein, denn obwohl er als Gassenjunge vermutlich mehr über diverse Fluchtmöglichkeiten wusste als normale Kinder in seinem Alter, hielt er es doch für unwahrscheinlich, dass Dohan und die Gemeinschaft nicht vorgesorgt hatten. Also holte er tief Luft. »Und wenn ich mich beruhigt habe, lässt du mich einfach so gehen?« So ganz traute er der Sache nicht, das wäre einfach zu einfach.
Dohan lächelte leicht. »Offensichtlich hast du dich noch nicht beruhigt. Aber ja, wenn du das wirklich willst, dann darfst du gehen.« Er ließ den Satz eine Weile in der Luft schweben, dann fügte er hinzu: »Allerdings müssen wir dir dann zuerst deine Magie nehmen, wie du vielleicht noch weißt. Aber das ist das Einzige, was dich aufhält. Danach darfst du wieder zurückkehren zu deinem Leben, wenn es das ist, was du möchtest.«
Jarin kapitulierte. Er mochte sauer sein auf Dohan, auf die feine Gesellschaft, auf alles, was sich seit gestern abspielte, aber er konnte nicht zurück, nicht wieder in dem Bretterverschlag schlafen, schon gar nicht, wenn er dort doch ständig an Taya erinnert wurde. Nein, das konnte er einfach nicht. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als ruhig zu bleiben und so schnell wie möglich zu lernen, wie er hier überlebte.
Der Magier sah die stumme Zustimmung des Jungen, erhob sich und öffnete die Tür mit einer leichten Handbewegung. Jarin starrte ihn mit offenem Mund an. Auch wenn er wusste, dass Dohan über Magie gebot, hatte er doch noch nie so etwas passieren sehen.
»Jarin, kommst du?« Dohan war schon vorausgelaufen und blieb jetzt stehen, als er sah, dass der Junge immer noch verblüfft in der Tür stand. Er lächelte. »Wenn alles gut läuft, wirst auch du das bald beherrschen.«
Jarin konnte sich das zwar nicht vorstellen, aber er sagte nichts dazu sondern schloss hastig zu Dohan auf. Dieser führte ihn durch mehrere riesige, protzige Gänge. Mit offenem Mund besah Jarin sich die Gemälde, die an den Wänden hingen, und das große Bild, das die ganze Decke zierte. Schließlich blieb Dohan vor einer Tür stehen und wartete darauf, dass Jarin bei ihm angekommen war. Dann öffnete er die Tür und schob den Jungen hinein. »Ranaís, das ist Jarin. Er ist neu hier, und er würde sich sehr über ein Bad freuen.«
Eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, trocknete sich die Hände an einem Handtuch ab und lächelte die beiden an. »Es ist schon bereit, Herr.« Lange, braune Haare flossen ihr in einem schlichten Zopf bis zu Hüfte hinunter. Sie war nur mit einem einfachen Gewand und leichten Schuhen bekleidet, beides in Weiß.
Dohan schien überrascht. »Oh! Fabelhaft! Ich staune immer wieder über deine unglaublichen Fähigkeiten, Ranaís!«
Das Mädchen lächelte abermals und knickste. »Vielen Dank! Es freut mich, dies zu hören, Ehrwürdiger.«
Jarin hatte sich bis jetzt erfolgreich zurückgehalten, doch nun schob Dohan ihn weiter vor. Ranaís nahm ihn sanft am Arm und führte ihn aus einer anderen Tür. Jarin sah sich panisch nach Dohan um, doch der lächelte nur und machte eine bestätigende Geste. Dann fiel die Tür hinter Jarin und dem Mädchen zu, und Jarin drehte sich wieder nach vorne. Verblüfft fiel ihm die Kinnlade herunter.
Er befand sich in einem großen Raum, der beinahe rund war und in der Mitte durch ein ebenso rundes, riesiges Becken unterbrochen wurde. In diesem Becken befand sich Wasser und komische weiße Bläschen, die obenauf schwammen. An den Seiten hingen viele weiße Handtücher, die meisten größer als Jarin. Ranaís grinste, als sie seine Überraschung sah. »Ja, so habe ich auch geguckt, als ich das erste Mal hier war. Magst du’s?«
»Ich- ich weiß nicht. Es ist so groß und offen!« Als Gassenjunge hielt man sich nicht gerne an solchen Plätzen auf - die Gefahr, von jemandem entdeckt zu werden, war zu groß, und gute Raubzüge ließen sich an solchen Orten auch nicht durchführen. Sie nickte mitfühlend. »Ja, es muss ungewohnt sein. Aber daran gewöhnst du dich! Die Gemeinschaft hat viele solche Räume.«
Jarin schluckte und sah sich im Raum um. »Dauert es lange, sich daran zu gewöhnen?«, fragte er leise. Nirgendwo gab es Verstecke, jederzeit konnte jemand hineinkommen, und wenn der dann Böses wollte, war Jarin innerhalb von Sekunden erledigt.
Ranaís lächelte. »Ja, aber keine Sorge. In ein, zwei Wochen wird dir das kaum noch auffallen.«
Ein oder zwei Wochen. Jarin war seltsam schwindelig. Dies hier war nun sein Leben. Ein Leben, von dem er nicht mal zu träumen gewagt hatte, und jeden, der es doch wagte, hatte er zusammen mit den anderen ausgelacht und verachtet. Sowas passierte einfach nicht. Höchstens in Geschichten, aber die waren dann selten gut. Niemand kam von dem Dreck und dem Schmutz, dem Gestank, dem Hunger, der Angst und der Verzweiflung der Gassen einfach so in ein rundes Zimmer ohne Verstecke und mit nur einem einzigen Ausgang. In ein Zimmer, bei dessen Konstruktion niemand an fliehende Leute auch nur gedacht hatte!
»Na komm, sonst wird das Wasser kalt!«, holte Ranaís ihn aus seinem Erstaunen. Wie in Trance bewegte er sich zum Wasser, und hätte das Mädchen ihn nicht aufgehalten, wäre er einfach mit der Hose, die ihm nicht gehörte, baden gegangen. Dann ließ er sich langsam in das Wasser gleiten und erlebte noch einen Schock: das Wasser war warm. Wasser war niemals warm! Wasser und Kälte gehörten für Jarin genauso zusammen wie die Gassen und sein Leben. Aber man erlebte ja noch Wunder…
»Es wurde durch Feuer geheizt«, erklärte Ranaís schon, bevor er seine Frage stellen konnte. »Es wird aus dem Fluss geleitet, von oberhalb der Stadt, damit er noch sauber ist.« Sie lächelte. »Es fließt unter den Gebäuden der Gemeinschaft entlang, damit möglichst viele Menschen hier etwas davon haben. Bei Bedarf schöpft man etwas aus dem Wasser, erhitzt den Kessel und transportiert es dann, meistens mit Magie, an den Ort, an den es soll. So wie das Wasser hier jetzt für dich.« Sie bückte sich und rührte mit der Hand in besagtem Wasser herum. Gedankenverloren starrte sie ins Nichts. Jarin wagte eine Weile nicht, etwas zu sagen, aber dann brach es aus ihm hervor: »Bist du auch eine Magierin?«
Überrascht sah Ranaís auf. »Ich? Nein.« Sie lächelte. »Meine kleine Schwester ist begabt, und sie wollte, dass ich mit hierher komme. Magie lernen konnte ich jedoch nicht, also arbeite ich nun einfach hier.« Wieder senkte sie den Kopf und starrte gedankenverloren ins Wasser.
»Woher… also, wo… woher…«, stammelte Jarin.
»Wir sind aus keinem adeligen Haus, aber auch nicht aus den Gassen. Wir sind… irgendwas dazwischen.« Sie schien sich zu schämen. »Wenn du’s genau wissen willst«, fuhr sie dann trotzig fort, »war meine Mutter eine Hure. Meine Schwester und ich entstanden durch irgendeinen reichen, alten Sack, der besoffen war und nicht allzu viel Geld hatte, doch für meine Mutter reichte es.«
Jarin zuckte zurück, als er die unbändige Wut des Mädchens spürte. Eine Weile schwiegen beide. Der Hass auf den Vater und vielleicht auch auf die Mutter war körperlich zu spüren.
»Ich habe meine Mutter verloren«, sagte Jarin irgendwann leise. »Da war ich sieben. Mein Vater starb einige Monate vorher, und jemand raubte uns fast unseren ganzen Besitz. Wir landeten in den Gassen, und meine Mutter…« Er zögerte. Dann sprach er noch leiser und mit gesenktem Kopf weiter. »Meine Mutter ist ein paar Wochen darauf gestorben. Sie hat den Tod meines Vaters nie verkraftet und kam mit der Welt der Gassen nicht klar. Sie verhungerte, aber ob sie das in ihrem Elend noch gemerkt hat und ob es sie gekümmert hat, das weiß ich nicht. Zurück blieben meine Schwester und ich.« Ein plötzlicher Schmerz ließ ihn gequält aufstöhnen und er spürte, wie ihm Tränen die Wangen hinunterliefen. Verärgert und beschämt wischte er sie weg.
Plötzlich war Ranaís neben ihm, legte ihm sanft die Arme um die Schultern und hielt ihn tröstend fest. Da konnte er nicht mehr. Er ließ seinen Tränen freien Lauf. Schluchzend klammerte er sich an ein Mädchen, das ihm vor ein paar Minuten noch vollkommen fremd gewesen war, und fühlte seltsamen Trost bei der Umarmung.
Als er sich nach einer gefühlten Ewigkeit langsam beruhigte, drückte Ranaís ihm sanft einen Kuss auf den Kopf und ließ ihn los. »Nun wollen wir dich aber endlich mal baden«, sagte sie. »Das Wasser ist bestimmt schon kalt, und Meister Dohan wird auch nicht ewig warten wollen.«
Jarin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und nickte. »Es tut mir leid, dass ich so geweint habe«, sagte er und fühlte sich fürchterlich. Wie konnte er sich nur bei einem Mädchen ausweinen?
Doch Ranaís lächelte nur. »Das muss es nicht. Eigentlich alle weinen, wenn sie das erste Mal hier sind – Leute wie wir, weil uns unsere Vergangenheit mitnimmt, und Kinder reicher Eltern, weil sie nicht mehr den gleichen Luxus haben wie zu Hause. Das ist okay. Es wäre eher merkwürdig, wenn du nicht geweint hättest.« Sie zwinkerte ihm zu. Jarin lächelte schwach.
Ranaís hielt nun einen riesigen Schwamm in der einen und eine gefährlich aussehende Bürste in der anderen Hand und kam damit auf ihn zu. »Dann wollen wir mal zusehen, dass wir dich ordentlich sauber kriegen, was?«