Verstaubte Geschichten aus vergessenen Büchern.

  • Die Tür quietschte in den rostigen Angeln, als ich sie schwungvoll aufstieß und über die ausgetretene Schwelle trat. „Martha! Ich- “, schaffte ich noch herauszubringen, ehe mir ein faustgroßes Knäul vom Türrahmen auf den Kopf fiel und sich spitze, kleine Krallen und Zähne wild in meinen Haaren verbissen. Ich riss die Hände nach oben um den Angreifer zu packen, was allerdings keine gute Idee war, da sich das Tier nur noch verbissener in meinen Haaren festkrallte und mit den Hinterbeinen an meinen Fingern kratzte.
    „Au! Du verdammtes Mistvieh! Lass sofort los“, zeterte ich wütend drauf los und beugte mich vornüber um das Biest mit wildem Kopfschütteln zur Aufgabe zu zwingen. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr und fast zeitgleich hörte das Ziepen an meinen Haaren auf, als der Jungdrache von mir abließ und freudig fiepend auf die Schulter der alten Dame flog, die sich im Türrahmen aufgebaut hatte. Ihre Wangen waren gerötet und hier und da hingen einige Strohhalme in ihren grauen Haarsträhnen. Die Arme in die Seiten gestemmt wirkte sie trotz ihrer kleinen Körpergröße erstaunlich einschüchternd.


    „Kind, warum machst du so einen Lärm?!“, fragte sie und ich konnte die Gewitterwolke, die ihre Laune war, förmlich über ihr schweben sehen. „Ich war fast fertig mit Neros Nest, kein Grund ungeduldig zu werden.“ schnaubte sie und machte auf dem Absatz kehrt. Stöhnend richtete ich mich auf und folgte der alten Dame durch den engen Korridor von der Haustür ins Wohnzimmer.




    Seit etwa einem Jahr kam ich nun regelmäßig jede Woche hierher zu Martha und verbrachte den Nachmittag mit ihr. Meistens hatte sie Kekse gebacken und frischen Tee in ihrer niedlichen mit Mickey-Mäusen verzierten Teekanne gekocht. Das Brett mit Mensch-ärgere-dich-nicht lag für gewöhnlich auch auf dem riesigen, uralten Eichenholztisch bereit. Martha und ich hatten eine Abmachung, die mich dazu verpflichtete einmal pro Woche mindestens zwei Stunden mit ihr Brettspiele zu spielen, wofür sie mich nicht bei der Polizei angezeigt hatte. Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich Martha nämlich überfahren. Glücklicherweise ist ihr nicht viel passiert, ein paar Quetschungen und Prellungen, ein blaues Auge - mehr nicht. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, wie sie unter meinem Auto hervorgekrochen kam und mich wüst beschimpft hatte. Wie so viel geballte Wut in einen so kleinen Körper passen kann, das ist mir bis heute ein Rätsel. Ich erspare an dieser Stelle alle weiteren unschönen Details jenes Nachmittags und kehre zurück zu den Brettspielen. Wie sich herausstellte hatte Martha keinerlei Verwandten mehr und war eine vielbeschäftigte Frau, weswegen laut ihrer Aussage kaum Zeit hatte nach draußen zu gehen und ihre Zeit in einem Café zu verschwenden. Was lag also näher mich zu einem wöchentlichen Nachmittagsbesuch mit Keksen, Tee und Schach zu verpflichten?




    Bei meinem ersten Besuch lernte ich auch Nero kennen, der übermütige Jungdrache mit einer Vorliebe für meine Haare. Er war zu früh geschlüpft und Martha hatte ihn unter ihre Fittiche genommen und ihm ein Zuhause im Dachgebälk ihres kleinen Häuschens gegeben. Es fiel ziemlich schnell auf, dass meine liebe alte Dame keine gewöhnliche Oma war, denn welche Oma hat schon eine Auffangstation für gestrandete magische Kreaturen? Neben Nero beherbergte sie auch den lahmenden Minotaur Frud, der auf der Flucht vor einem Stachelschwanz-Greif umgeknickt war, den magischen Welpen Fleischreißer, der sich kurze Distanzen durch Raum und Zeit teleportieren konnte und den Dämon niedrigster Stufe Waja, der seit Monaten der Hölle hinterhertrauerte, die ihn nach seiner „Friede für alle!“-Kampagne kurzerhand rausgeworfen hatte.


    Ich gebe zu, dass ich eine Weile an meinem Geisteszustand gezweifelt habe und mir nicht sicher war, ob ich nun völlig den Verstand verloren hatte und ein Fall für das Irrenhaus war. Einige harmlose Verbrennungen ersten Grades von Nero später war ich aber ziemlich von seiner Echtheit überzeugt. Wer konnte auch schon wissen, dass erkältete Drachen Feuerbälle husten?




    „Setz dich Mädchen, du siehst müde aus. Harten Tag gehabt?“, fragte Martha, während sie mir eine Tasse Kräutertee eingoss und Nero mit der freien Hand unter seinem schuppigen Kinn kraulte.


    „Ach, das Übliche. Ich bin wirklich dafür, dass alle unsere Kunden einen Computer-Grundkurs absolvieren, bevor sie überhaupt mit einem arbeiten dürfen. Es ist unglaublich wie oft ich allein heute erklären musste, dass ein Update keine Daten löscht und man das ruhig machen kann!“, schnaubte ich verärgert und zog die dampfende Teetasse heran. Martha nickte mitfühlend, obwohl ich genau wusste, dass sie keinen blassen Schimmer hatte wovon ich sprach, geschweige denn wusste was ein „Update“ war. Gerade deswegen mochte ich sie wahrscheinlich so. Es war egal mit welcher Geschichte aus meinem Alltag ich um die Ecke kam, sie hörte sich geduldig mein Leiden an, verurteilte nichts und niemanden und wusste genau an welchen Stellen sie empört den Kopf schütteln oder zustimmend nicken musste. Umso mehr mochte ich es, wenn sie mir den neuesten Klatsch und Tratsch aus der anderen Welt erzählte. So hatte ich all das getauft, das mir verborgen blieb, Martha aber voll involviert war.
    Schwerfällig ließ sich Martha mir gegenüber auf den zweiten Stuhl fallen und richtete das Schachbrett her. Die Figuren bewegten sich auf Fingerzeig und nahmen ihre vorgesehenen Positionen ein. Heute bekam ich den weißen König und sie spielte den schwarzen. „Kindchen, Unwissenheit ist nun mal die Bürde vieler Menschen.“, belehrte sie mich und kippte großzügig Zucker in ihre Tasse. „Aber davon kann ich heute auch ein Lied singen. Kannst du glauben, dass Berta schon wieder einen ihrer Kessel in die Luft gejagt hat?“, empörte sie sich. Berta Hemm war eine magische Kollegin Marthas und von Woche zu Woche schien sie irgendetwas immer wieder etwas anzustellen, was meine liebe alte Dame auf die Palme brachte. „Kann dir das nicht egal sein?“, murmelte ich in meine Teetasse.


    Die Schnappatmung von der anderen Seite des Tischs verriet mir, dass es Martha alles andere als egal sein konnte. „Wie stellst du dir das vor?! Den Schwefelgeruch konnte man durch sämtliche der niederen Dimensionen riechen, du kannst dir nicht ausmalen, wie viele neue Tunichtgute sie damit angelockt hat!“, fuhr sie fort und redete sich zunehmend in Rage. „Berta geht unverantwortlich mit ihrer Zauberei um. Ich glaube sie wird einfach senil. Man sollte ihr die Lizenz entziehen.“


    Der Tee begann mich von innen zu wärmen und ich kommandierte einen weißen Bauern mit einem Fingerzeig auf dem Spielfeld nach vorn, ehe ich vorsichtig zu einer Antwort ansetzte. „Darf ich dich an den Vorfall von vor vier Wochen erinnern? Du hast Fleischreißer fast in die niedere Hölle portiert in dem Versuch ihm mehr Kontrolle über seine Fähigkeiten beizubringen.“ Ich hob die Augenbrauen und verpasste Nero einen sanften Klaps, als er die Schnauze über die Tischkante streckte um meinen Springer zu mopsen.


    „Das ist doch etwas völlig anderes.“, murrte Martha und kommandierte ihren Läufer gefährlich weit nach vorn. „Sie zieht ungewollte Aufmerksamkeit auf sich und das Institut der Kontrolle magischer Substanzen ist schon länger kritisch ihrer Arbeit gegenüber.“ Das war auch so etwas, was mich überrascht hatte. Es gab in der Welt des Übernatürlichen Regeln, die sogar weitgehend akzeptiert und eingehalten wurden. Die offiziellen Institutionen mochten sich vielleicht mehr um magische Unfälle und Gesetzesentwürfe zur Eindämmung ektoplasmatischer Abfälle statt der üblichen Diebstähle und Rosenkriege, die die Normalsterblichen plagten, kümmern, jedoch schienen sie zu funktionieren.


    Mit einem Schnippen der Finger schickte ich meinen Bauern nach vorn um Marthas Läufer aus dem Spiel zu werfen. Solche Fehler waren für die alte Frau untypisch, was dafür sprach, dass sie den Kopf mit anderen Dingen voll hatte.


    „Alles in Ordnung Martha? Du wirkst ein bisschen unkonzentriert.“, fragte ich und sah sie an. Sie wirkte chaotisch wie immer, doch meinte ich mehr Falten auf ihrer Stirn zu sehen als sonst. Machte sie sich um etwas Sorgen?


    „Nichts wichtiges, Kindchen.“, beteuerte Martha und rieb sich über die Schläfen. „Im Augenblick ist einfach sehr viel los in meiner Welt und nicht alles davon sieht rosig aus. Es gibt ein paar bevorstehende Veränderungen, die…“


    Ein lautes Hämmern an der Tür, die zum Garten führte, ließ das Gebälk erzittern. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen und formte mit den Lippen ein lautloses „Wer ist das?“. Martha war kreidebleich geworden und saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl. Langsam schüttelte sie den Kopf und hob den Finger an die Lippen. Wer auch immer der Besucher war, er schien kein Freund zu sein.

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