Berge – für die einen lediglich eine Anhäufung von sehr viel massivem Fels und noch weitaus mehr lockerem Fels, sowie Garant für Blasen an den Füßen, Rückenschmerzen und Muskelkater.
Für die anderen ein Spielplatz der Natur, unergründliche Schönheit, unzählige Wunder und Garant für erlebte Freiheit.
Da war ich also angelangt, in den Tiefen der deutsch-österreichischen Alpen. Zahlreiche Schilder wiesen mich schon auf der Hinfahrt auf die tunlichst zu vermeidenden Tätigkeiten hin.
Ein wahrhafter Wald aus Verboten erstreckte sich links und rechts der Straße und erklärte jedwedem Besucher dass er lediglich Bittsteller war, keinesfalls Besucher.
Allenthalben wurde auf Ruhe und Rücksichtnahme gegenüber der Natur hingewiesen. Umso erstaunter war ich denn, als ich keine hundert Meter die Straße empor ein gewaltiges Kieswerk sah,
in dem munter bunte Kipplader auf und nieder fuhren. Sie türmten unermüdlich den Kies des Flusses zu kleinen und auch großen Häufen; man könnte meinen es bereite ihnen einfach Spaß und habe keinen tieferen Sinn.
Die Straße nahm an Windungen zu und an Qualität ab.
Risse und Schlaglöcher zierten sie nunmehr und ließen das Fahrerlebnis zu einer Wildwasserfahrt mutieren.
Letztlich kannte ich jedoch die großen Löcher schon. Alte Bekannte, in Jahren gewachsen, der stupiden Ignoranz der bayrischen Forstwirtschaft entsprungen und aufgrund ihrer finanziellen Engstirnigkeit niemals ordentlich befüllt.
Einige besaßen bereits klingende Namen, wie „Achsenbrecher“ oder „Gelenknudler“. Ich erwartete jedes Jahr aufs Neue dass ein treuer Anhänger jener Straßenschäden ein Gedenkschild aufgestellt haben mochte, auf dem er jedem einzelnen ein Loblied singt. Ab und an fand sich auch ein solches Denkmal, doch handelte es sich hierbei lediglich um die Kreuze die die toten Motorradfahrer ehrten, deren letzte Begegnung mit „Achsenbrecher“ und „Gelenknudler“ keinesfalls glücklich ausgingen.
Unbeachtet dieser alljährlich zu sehenden und altbekannten Lappalien, drang mein vor Rost starrendes Gefährt, mit mir als lenkenden Insassen, tiefer in dieses, auf diversen Landkarten als „Wildnis“ deklariertes, Gebiet vor.
Die Straße wand sich eine stark bewaldete Talsohle empor, immer bergan, in engen und weiten Kurven. Zu beiden Seiten säumten steile bewaldete Berghänge das Tal, so dass es unmöglich war die Gipfel aus dem Auto heraus zu erkennen, außer man reckte den Kopf aus dem offenen Fenster. Die ersten Blätter färbten sich, es war Spätsommer und auf den höchsten Gipfeln des Hauptmassivs lag bereits frischer Schnee. Die Nächte waren kalt die letzten Wochen und erst langsam stellte sich ruhigeres und milderes Wetter ein. Der Gegenverkehr schien mir teils lebensmüde, teils mörderisch. Motorräder sausten in atemberaubender Geschwindigkeit an meinem linken Außenspiegel vorbei und ich ertappte mich dabei den rechten Straßenrand in jeder Kurve mit größerer Zuneigung zu suchen als zuvor. Ich näherte mich dem Ziel meiner Fahrt. Kaum hatte ich den Sockel des Berges, zu dessen Füßen die Straße verlief, erreicht und war über die Staumauer eines Sees gefahren, verflüchtigte sich der dichte Gegenverkehr und ich humpelte mit meinem rostigen Schrottkasten eine noch weitaus schlechtere Straße entlang. Mein Rücken und die zerbrechlichen Ausrüstungsgegenstände litten unter diesem Umstand, doch brachte mich jede kleine umschlagende Zahl auf meinem Kilometerzähler näher ans Ziel. Bereits an der Festigkeit meiner Federbeine zweifelnd gelangte ich dann auch schlussendlich dorthin, wohin es mich schon Monate zuvor in meinen Träumen sehnsüchtig gezogen hatte.
Vor mir öffnete sich ein weites Tal, durch dass sich ein großer Gebirgsbach schlängelte. Mit an Unverschämtheit grenzender Selbstverständlichkeit parkte ich meinen Wagen drei Meter vor dem Verbotsschild, welches sowohl das Parken als auch die Durchfahrt verbot, in einer Nische. Huldvoll schälte ich meinen Körper aus dem Fahrersitz und bog mein Rückgrat in eine natürliche Form zurück. Um den Umstand meiner Verbiegung zu kaschieren und vor mir selbst zu verstecken begann ich damit die Umgebung in tippelnden Schritten auf der Stelle zu sondieren, woraufhin mir so mancher erleichterter Seufzer entfleuchte.
Ein typischer Duft der Berge stieg mir in die Nase, abgesehen von dem Duft der heißen Bremsklötze meines Wagens natürlich. Der Duft nach kalter klarer Luft, zertretenem wilden Thymian, Chlorophyll und Kuhdung. Eine dieser Lüftchen die von Touristen gerne mit den Worten: „Eine Luft zum hineinbeißen!“ bezeichnet wird. Erhebend, dieses Gefühl der Ankunft.
Ich begann sodann den Wagen seines Inhaltes zu entleeren und zu sichten ob auch alles tatsächlich an seinem Platz sei. Viel hatte ich nie dabei, schon seit Kindheitstagen nicht. Wozu auch mehr tragen, als dass, was unabdingbar erscheint. Und selbst dies ist meist noch zu viel und wiegt zu schwer. Der Schlafsack quoll aus seinem Beutel, so dass ich ihn zuerst wieder überreden musste hinein zu gehen. Danach prangte er auf dem Deckel des alten Armeerucksacks, der seit Jahren seinen Dienst tat und nur manchmal angelegentlich Sabotage betrieb, indem er eine Schnalle verlor oder eine Naht platzen ließ. Unzählige Flicken und Nähte, ein langes Stück Draht und Heftklammern hatten ihn letztlich immer wieder ins Leben zurück geholt. Ein tapferer Kämpfer gegen das Vergehen war er, dieser Rucksack. Und ich hasste ihn für seine Unbequemlichkeit, für seine Unförmigkeit und überhaupt alles. Aber deshalb war er mir lieb – damit konnte ich wenigstens jemandem die Schuld geben, wenn mich des Abends der Rücken schmerzte. So hatte jeder etwas davon. Nachdem der Schlafsack wieder verzurrt war und keinen Mucks mehr von sich gab, widmete ich mich der neuerlichen Sichtung des Innenlebens meines verhassten Rucksackes. Allem Anschein nach war alles heil geblieben, allerdings war die Ordnung beim Teufel. Alles flog sinnlos von einem Ort zum anderen und letztlich beließ ich es dabei, obwohl ich natürlich für mein Seelenheil so tat, als würde ich die Ordnung wiederherstellen.
Da waren also die Aluminiumnäpfe des billigsten Fertiggerichtes dass man in Discountmärkten erstehen konnte, für jeden Tag eines, zehn an der Zahl, als Zehrung für das Nötigste. Der Traum des Selbsternährers musste aufgrund gesetzlicher Notstände in diesem Land leider geträumt bleiben. Letztlich erfüllten aber die Bisamratten und Igel auf deutschen Landstraßen durchaus ihren Zweck der Übung und so konnte ich letztlich nicht exakt bekunden welche Nahrung widerwärtiger schmeckte, die Fertiggerichte oder die überfahrenen, nicht unter das Jagdgesetz fallenden Tiere. Letztlich entschied ich mich für die Tiere, da sie meist arg nach Gummi und Abgasen zu schmecken pflegten. Dieser geistigen Abschweifung zum Trotz fand ich meinen Gaskocher, der mir für den Fall des unaufhörlichen Dauerregens das Essen erwärmen sollte. Letztlich würde ich aber auf Feuer setzen, gleichwohl man in diesem Land für wildes Feuer generell erschossen wird. Es gibt Dinge im Leben, die man sich nicht nehmen lassen sollte. Darunter fällt auch das Recht mit Sorgfalt und Verantwortung dem Urbedürfnis des Menschen nach einem eigenen Lagerfeuer nachzukommen. Andere Menschen fliegen für tausende in den Urlaub, unsereins kalkuliert das Bußgeld bereits in seine Urlaubskosten mit ein, so gönnt das Leben jedem seine Unkosten. Letztlich kommt man doch billiger über die Runden, weil man sich ja nicht erwischen lässt. Welch Frevel an der Gesellschaftsordnung.
Die Gaskartusche wanderte mitsamt des Kochers in eine Ecke des Stauraumes, eingeklemmt zwischen meinem Buch, dass mir die Trübsal kalter Morgen vertreiben sollte und dem kleinen Radio, dass mir den Wetterbericht einbringen sollte, damit ich nicht von Unwetterfronten überrascht und letztlich dumm dastehen würde. Irgendwo gammelte eine alte zerknitterte Landkarte herum, aber ich konnte sie unter den zahllosen Unterhosen und Socken nicht finden. Also erklärte ich sie offiziell für vermisst, aber nicht tot und verließ mich auf meine Ortskenntnis. In der Rückentasche prangte die unbequeme zusammenfaltbare militärische Isoliermatte und grinste mir hämisch entgegen. In ihrer olivfarbenen Hässlichkeit besaß sie direkt den Charme eines Bettes, sofern man eben nichts anderes als den nackten Boden sein Eigen nennt. Normalerweise bevorzuge ich Schlafhöhlen aus Nadelholz, toten Blättern, Moos und großen lebenden Blättern als Dach, doch in diesen Gegenenden wird man für das bloße betreten der Landschaft schon erschossen – eigentlich wäre es demnach egal, ob man die Landschaft zu Hügeln auftürmt, da man ja ohnehin erschossen würde, aber ich dachte mir, es sei eine noble Geste wenn ich der Obrigkeit ihre Liebe zum Verbot belasse. Stattdessen fand ich auch die große Plane, die mir als Dach dienen sollte, sowie die Ösen, Haken und Riemen zur Befestigung an den Bäumen. Neudeutsch nennt man dieses Gerät Tarpulin, das ist eingängiger in Werbetexten und macht einen schlanken Fuß, wenn man es dem staunenden unbedarften Sörfeifel-Neuling erklärt.
Anders als so mancher Anhänger der Westentaschen-Überlebenskunst, beschäftigt sich der Könner eigentlich viel lieber mit Dingen die man in jedem Supermarkt findet. Mülltüten zum Beispiel. Sie sind die Lebensretter jeder Lage, transportieren Wasser, Erdreich, Blätter, Fleisch, Blut, Maden, dienen als Kleidung und Schuh, helfen bei Wundversorgung und geben treffliche Bindfäden bzw. Schnüre ab. Geflochten sollen sich schon Leute daran abgeseilt haben. Sicherlich ein wortwörtlich dehnbarer Begriff. Über diese Helden des Alltags spricht keiner. Aber über das überteuerte Multifunktions-Metallgerümpel eines mehr oder minder erfahrenen Ex-Soldaten der meint er habe das Anrecht über die Medien die Menschheit mit halbvergorenen Weisheiten zu beglücken und aus seinem Namen eine eingetragene Marke zu machen, über dies redet sogleich jeder. Nun, wer sich schon Bär nennt, kann kein Meister sein. Nur Würstchen geben überall ihren Senf dazu.
Das war es also, das Rüstzeug mit dem ich meinen kleinen Trip zur Entspannung antrat. Keinesfalls viel, aber für mich doch mehr als üblich. Am Leib trug ich meine alte abgetragene olivfarbene Kombination inklusive Fellfutter, die alten ausgelatschten Turnschuhe und gegen die kalten Nächte eine Wollmütze. Warum auch mehr haben, wenn doch ohnehin alles verloren scheint.
Mein Erscheinungsbild ähnelte also weit mehr dem, was die Stadtbevölkerung als Waldschrat betitelt, denn einem heroischen Abenteurer in moderner Hightech-Kleidung. Die Atmungsaktivität meiner Kombination beschränkte sich auf das Öffnen und Schließen des langen Reißverschlusses und der Feuchtigkeitstranpsort vollzog sich vornehmlich von außen nach innen. Die einzige Gegenmaßnahme war, sich durch Bewegung dergestalt zu erwärmen, dass die Körperhitze das Wasser zu Dampf werden ließ, welcher dann am Hals, an meinem Kinn vorbei, gen Himmel stieg. Als solches eine sehr treffliche Gesichtsheizung.
Ich schloss meine Karre ab, klappte die Spiegel um, hängte den obligatorischen Zettel an die Windschutzscheibe „Wenn die Kiste am 25. hier noch steht, bin ich entweder tot, oder schwer verletzt. Im ersten Fall bitte folgende Personen anrufen… im zweiten Fall bitte ebendiese Personen anrufen und ggf. Suche einleiten, so erwünscht.“
Mein Humor beschränkte sich auch zur damaligen Zeit nicht nur auf das Verbale. Allerdings meine ich im Nachhinein bemerken zu dürfen, dass es kein sonderlicher Ansporn für die Rettungsmannschaften gewesen wäre, diesen Zettel zu finden. Ich hätte doch ein „Vielen Dank“ anhängen sollen. Jedoch war der Zettel zu klein. Nun, beim nächsten Versuch soll es so sein.
Ich schwang sodann meinen Rucksack unter Fluchen auf meinen Rücken und war glücklich als dass dieses Manöver ohne mehrerer Versuche vonstatten ging. Gewöhnlich verwehrte mir mein leidenschaftlich gehasster Rucksack diese Gunst und strafte mich mit verdrehten Gurten, klemmenden Schnallen und infernalisch stechendem Innenleben.
Diesmal behandelte er mich also nett. Ich danke ihm grunzend für diese Liebe und beschritt nun den Weg meiner eigentlichen Reise.
Einige hundert Meter musste ich die Asphaltstraße entlang, bis ich zu einer alten steinernen Brücke gelange. Sie führte über den Wildbach und war das letzte Stück Straßenbautechnik der nächsten fünfzig Quadratkilometer. Hinter der Brücke führte die Straße keine hundert Meter weiter ins Nichts. Einst lag hier ein großer Berghof, der nach seiner landwirtschaftlichen Pleite zu einem Hotel umgebaut worden war, nun aber seit mehreren Jahren als abgebrannte Ruine in der Landschaft stand und verrottete. Mir war es recht, hatte ich doch so einen äußerst angenehmen Einstiegspunkt.
Mein Weg sollte mich über verschlungene Pfade kreuz und quer durch das Bachbett führen, von einer Seite des Tals zur anderen und zurück. Insgesamt hatte ich 60km geplant, da es mir nicht um Distanzen ging. Für den Anfang begnügte ich mich mit der Suche eines Lagerplatzes und so war dies das einzige Ziel meines ersten Tages. Die Anfahrt war lang gewesen, es würde bald dunkel und so konnte es nicht schaden bereits bekannte Stellen aufzusuchen. So stolperte ich den steilen Abhang hinter der Brücke hinab und hielt mich hart am steinigen Ufer des Baches. Die großen Steine waren nicht glatt, dafür gerne locker, so dass jeder Schritt wohl bedacht zu sein hatte. Das milchig blaue Wasser erinnerte mich auf kolossale Art an Pernod.
An dieser Stelle war der Bach bereits sehr breit und so floss er weit weniger geräuschvoll und reißend denn oben in seinem Quellgebiet. Tatsächlich wurde er mit jedem Meter bergan wilder, da das Tal sich einschnürte und große Felsmassen, die dem Wasser seit Jahrtausenden widerstanden, seinen Lauf einengten. Zudem teilte er sich kurz vor der Brücke in einen zweiten Arm, der hart nach links abbog und den ich noch zu durchqueren hatte. Dieser Arm versickerte an einer weiter entfernten Stelle und kam erst Kilometer weiter bergab wieder zum Vorschein.
Der Bewuchs des Tales war stets gleich, nie änderte sich etwas daran. Einige der Bäume kannte ich schon aus frühen Kindheitstagen, in denen ich mit meiner Schwester am Ufer des Baches im Matsch spielte. Hauptsächlich wuchsen verschiedenste Formen der Weiden, welche gerne im Gebirge heimisch sind. Nicht jene schnöden Sal-Weiden des Flachlands, sondern Exemplare wie die Purpur-Weide etwa. Hübsche Zeitgenossen, diese strauchigen Bäume.
Natürlich drängten sich auch Unmengen von Latschenkiefern aneinander und übereinander. Ein wahrer Teppich aus Nadeln. Alle versuchten den Wandersmann mit ihren verschlungenen knorrigen Ästen zu greifen und wenn es ihnen gelang, dann zog man Schürfwunden davon. Aber auch Birken und Buchen wuschen im Tal, dort wo die kleinen Inseln vom Wasser lange Zeit nicht bewegt wurden. Allerdings entdeckte der aufmerksame Mensch auch Fremdlinge. So hatte sich etwa ein Fliederstrauch aus dem Garten des ehemaligen Hotels geflüchtet und war nun offenkundig im Bachbett glücklich geworden. Seine Töchter und Söhne ebenfalls.