Vogel des Vergessens

  • Vogel des Vergessens


    Eine schwarze Gestalt ließ sich neben dem Jungen nieder. Er hatte keine Kraft mehr in Armen und
    Beinen, zu lange hatte er nichts mehr gegessen und getrunken. Erst war er noch durch die Straßen
    gezogen und hatte versucht Essen von den Leuten zu erbetteln und tatsächlich bekam er in der
    Anfangszeit auch etwas, aber dann war sein Glück vorbei gegangen und nun hatte er sich hier hin
    gelegt in diese dunkle Ecke unter einer viel befahrenen Brücke, wo niemand sein Vergehen zusehen
    sollte, bereit zu sterben. Wollte ihn diese schwarze Gestalt verhöhnen?
    „Aber nein, mein Kind“, hallte es in seinem Kopf.
    Sein ohnehin schwacher unregelmäßiger Atem stockte: „Du kannst meine Gedanken lesen?“
    Er konnte das Schmunzeln der dunklen Gestalt nicht sehen und doch wusste er, dass sie es gerade
    tat: „So ähnlich, mein Kind.“
    Begann er jetzt zu halluzinieren? Oder wurde er nur wahnsinnig?
    „Weder das eine noch das andere mein Kind“, erklang es da wieder in seinem Kopf.
    Er hatte nicht geglaubt, dass es möglich war, doch seine Kehle schien noch ein Stück mehr
    auszutrocknen, als er sich zur Frage durchrang: „Bist du der Tod?“
    Die Gestalt lachte … es war ein kaltes keckerndes Lachen, welches ihm bis ins Mark der Knochen
    zu dringen schien: „Nein, aber nicht doch mein Kind.“
    „Bist du Gott?“
    Jetzt brach die Gestalt in schieres Gejohle aus. Es klang wie das Geschrei von abertausenden
    verwundeten Tieren. Sein Ohr wehrte sich das zu hören, es wollte vor Schmerzen zerspringen , um
    nur nicht mehr dieses Geräusch zu hören. Aber selbst dieser verzweifelte Wunsch war hoffnungslos,
    denn er hatte einerseits nicht mehr die Kraft dazu, seine Ohren zu zerstören und andererseits schien
    das Gejohle sich gar nicht mit dem Umweg durch sein Gehör aufzuhalten, sondern drang direkt in
    seinen Kopf ein. Langsam ebbte das Geschrei ab und ging in etwas wie das Summen von tausenden
    Bienen über, bis selbst das erleichternderweise verschwand, dann war nur noch absolute Stille zu
    hören … nicht mal mehr der Verkehrslärm von der Straße drang an sein Ohr:
    „Nein mein Kind, auch wenn es für Wesen wie dich ein großes Unglück sein mag, so haben die
    Menschen schon vor hunderten Jahren Gott getötet. Du hast es doch selbst gesehen.“
    Es stimmte. Er hatte in den letzten Tagen tausendmal in diese steinernen Augen geblickt. In diese
    Augen, die einfach nicht seine Existenz wahrnehmen wollten. Die sie einfach zu ignorieren gewillt
    waren, um sich nicht mit der Frage zu belasten, warum sie so dicke Bäuche hatten, während da so
    eine erbämliche Gestalt vor ihnen stand. Und er verstand sie ja, als das Glück noch auf seiner Seite
    gewesen war, hatte er nicht anders gehandelt. Nein, er war sogar schlimmer gewesen. Viele Tränen
    waren im Andenken jener kläglichen Gestalt damals geflossen, der er ins Gesicht gespuckt hatte,
    weil sie ihn für seinen Geschmack zu sehr um eine Spende anflehte. Aber auch die Kraft für Tränen
    war längst vergangen und so konnte er jetzt nur noch in Trauer an sie denken. Er spürte wie eine
    trauernde fast schon mitleidige Vibration in der Luft hing. Sie schien von der Gestalt auszugehen.
    Er wollte aber nicht bemitleidet werden. Die Welt hatte ihm alles genommen, da sollte sie ihn nicht
    auch noch seiner Würde berauben. Er wollte sich nicht wie ein Tier nach diesem Mitleid lechzen
    und sich ihm unterordnen. Nein er war frei und von niemandem abhängig, zumindest hatte er sich
    das damals gedacht, als er weg gerannt war.
    „Was bist du dann?“, versuchte er schnell dem Strudel an traurigen Gedanken zu entkommen.
    „Spielt denn das eine Rolle?“
    „Allerdings, denn nur der Tod sollte das Recht haben mich in diesem Moment zu beobachten.“
    „Mein Kind, ich befürchte du hast nicht mehr das Recht dazu, zu entscheiden, wer dich sieht und
    wer nicht.“
    „Bin ich also tot?“
    „Ja.“
    Ein Stich durchlief sein Herz, ja auch wenn es viel Schmerz bedeutet hatte, hatte er an seinem
    Leben gehangen. Dieses Leben, welches so entbehrungsreich für ihn gewesen war, weil er meinte
    alles besser zu wissen, meinte wegrennen zu können, ohne sich helfen zu lassen, nur um ihren
    Regeln nicht mehr zu folgen: „Du hast nicht gerade blumige Worte für den Umstand gewählt“,
    versuchte er seine Nervosität und neuen Schmerz zu überspielen.
    „Allerdings nicht.“
    „Aber wenn ich tot bin, wieso holt mich nicht der Tod?“
    „Mein Kind, damit der Tod dich holen könnte, müsste jemand wissen, dass du gestorben bist.“
    „Bedeutet das ...“
    „Ja kein einziger mein Kind.“
    Er spürte wie ihm eine einzige Träne die Wange herunterlief. Langsam rann sie seinen ausgedörrten
    Wangen hinab, befeuchtete die Lippen, die schon lange kein Wasser mehr gesehen hatten, sammelte
    sich unten am Kinn, zögerte dann eine Sekunde und fiel auf den Stein. Er spürte wie etwas, was
    sich wie eine Hand anfühlte seine Wange berührte. Diese Hand konnte jedoch nicht menschlich
    sein, war sie weder kalt noch warm und war es nicht das Gefühl von Haut auf Haut, welches er
    verspürte, sondern eher das Gefühl von tausenden Tränen, die sich in einem Gegenstand
    manifestiert hatten. Er versuchte den Kopf wegzudrehen, selbst jetzt konnte er nicht zulassen, dass
    jemand sein Schmerz sah und die Kreatur zog die Hand unter diesem schrecklichen mitleidigen
    Vibrieren zurück.
    „Dann ist das nun das Ende?!“
    „Nein mein Kind, es ist das Vergessen.“
    „Dann bist du das Vergessen?“
    „Nein mein Kind, aber ich werde dich zu ihm bringen.“
    „Und wenn ich nicht will?“
    „Du hast leider keine Wahl mein Kind. Du siehst doch selbst, dass du dich gegen mich nicht wehren
    kannst.“
    Ein leichtes Keuchen entrann seiner Kehle, als er sich zu Seite kippte, um weg von der Gestalt zu
    kommen. Er merkte, wie sein Körper erst leicht und dann immer schneller kippte. Ja er wäre lieber
    auf dem Grund des Flusses, welcher unter der Brücke entlang lief als weiter im Beisein dieses
    Wesens. Als er schon meinte im freien Fall zu sein, spürte er, wie er auf etwas hartes prallte, was da
    nicht hätte sein dürfen. Als er seinen Kopf, der zur Seite gefallen war, unter größten Anstrengungen
    wieder nach vorne drehte, sah er, dass vor ihm eine zitternde schwarz Oberfläche war. Die Haut war
    unstrukturiert, schien in den unmöglichsten Winkeln abzustehen und alles töten zu müssen, was in
    sie fiel und doch merkte er nun, dass sie eigentlich unendlich weich war. Es war fast, als würde er
    auf Federn liegen.
    Federn.
    Ein weiches Bett.
    Ja wie wäre es endlich mal wieder mit schlafen?
    Ein süßer erholsamer Schlaf, der ihn alle seine Probleme vergessen ließ.
    Langsam sackte der Kopf des Jungen weg und die Gestalt erhob sich leise.
    Er konnte so nicht mehr sehen, dass auf dem Gesicht der Gestalt eine einzige kristalline Träne
    entlang lief, in welcher sich die ganze Erinnerung an den Jungen befand, die diese grausame Welt
    nicht mehr hatte behalten wollen.

    It is like an endless movie that has no happy end (nano - Hysteria)

    We can't undo the scars, all up and down our hearts can't forget how it felt when it all fell apart and we talk a big game like we wanna get well in our prison made of pain only fooling ourselves (Icon for Hire - Get Well II)

  • Ich muss ziemlich genau in deinem Alter gewesen sein, als ich diese Art von Kurzgeschichten geschrieben habe. Das Schöne an Kurzgeschichten ist, dass man dort wirklich geniale Ideen umsetzen kann - und das, obwohl man nur einen einzelnen Punkt in der Zeit festhält. So etwas funktioniert meiner Meinung nach weder mit Büchern oder Filmen noch mit Bildern.
    Ich möchte allerdings auch nicht behaupten, dass ich vollständig verstanden habe, worüber du geschrieben hast. Ich denke, das kann man nicht erwarten. Allerdings kommt die Haupt-Idee deutlich genug rüber, und die gefällt mir!


    Mir kommt die Sprache sehr bekannt vor. Du hast nicht zufällig viel Hohlbein gelesen? :Halloweenwink:



    Angenommen, ich hätte einen subjektiven Grund zu konstruktiver Kritik - würdest du die hören wollen? :halloweenlaugh:

  • Hohlbein ist auf jeden Fall mir kein unbekannter Author, auch wenn ich seit längerem nichts mehr von ihm gelesen habe, aber ja, es gab eine Zeit, da war ich relativ begeistert von den Büchern.^^


    Und klar ... diese Geschichte trage ich schon mehrere Jahre mit mir rum und sie hat schon so manche Änderung erfahren ... auf eine mehr oder weniger käme es da auch nicht mehr an.^^

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  • Inhaltlich möchte ich gar nichts ändern - dafür sehe ich auch gar keinen Grund.
    Außerdem: Solange keine Inkonsistenzen auftreten, ist der Inhalt allein deine Sache. Erstens - wie gesagt - sollte niemand behaupten, dass er die Idee nicht missverstanden haben kann und zweitens steht für mich diese absolut im Vordergrund. Die Idee ist die Seele der Kurzgeschichte. Um sie herum entwickelt sich alles. Wenn jemand inhaltliche Vorschläge bringt, bedeuten das für mich nichts anderes, dass er deine Geschichte hijackt und zum Teil zu seiner eigenen macht. Geht gar nicht. :halloweenyes:


    Mir geht es persönlich eher um die Sprache. Bei Hohlbein hatte ich manchmal den Eindruck, dass er zu sehr bemüht war, diese möglichst ungewöhnlich oder theatralisch zu gestalten. Mit Formulierungen, die im täglichen Sprachgebrauch keine Anwendung mehr finden. Das ist okay und das ist im Wesentlichen auch Geschmackssache und überhaupt nicht Schlechtes.
    Ich würde aber aufpassen, dass gerade ungewöhnliche Formulierungen sich nicht zu schnell wiederholen. Das ist etwas, was mir beim Lesen seiner Bücher aufgefallen ist, und das hat jedes Mal den Lesefluss unterbrochen, wenn man sich denkt "Moment, das hat er doch gerade schon benutzt.". Da genügen schon einzelne Wörter wie "kippen" oder "Gejohle". Die würde ich nur einmal benutzen und dann nach Alternativen suchen.


    Das zweite Problem mit blumiger Sprache ist, dass man sich keine holprigen Stellen mehr im Gesamttext leisten darf! Es fällt dann nämlich auf, wenn in einem Satz wahres Gold aus der Feder fließt und im zweiten danach eben nur noch Blei. Das ist jetzt kein Teil meiner Kritik, das ist eher eine Art Warnung, die ich im Hinterkopf behalten würde.


    Sprach-Stolperer sind auch für mich noch ein Problem und der einzige Grund, warum ich mit meinem letzten Entwurf einfach nicht fertig werde. :halloweenlaugh: Aber im Endeffekt wende ich meinem eigenen Stil an deine Geschichte an und das solltest du auch im Hinterkopf behalten. Ich bin kein Linguist oder "professioneller" Poet. :Halloweenwink:

  • Keine Angst, das sind legitime Anmerkungen.^^ Ich werde mal darüber nachdenken, ob ich die beiden Wörter ersetzen will und wenn ja wie.^^


    Generell schreibe ich Texte aber "einfach nur runter", daher kann sowas häufiger passieren, was nicht bedeutet, dass ich mich grundsätzlich gegen Änderungen sperre, es ist nur die Art und weise, wie ich schreibe.^^ Daher ist es sicherlich gut, wenn auch noch einmal ein anderer Mensch ein Auge darauf wirft und seine Gedanken dazu äußert.

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  • Vielen Dank :)

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