Hallu,
Ich habe vor Kurzem mir mal wieder eine zufällige Zeitschrift gekauft. In diesem Fall war es die Psychologie heute (Ausgabe 01/2022) in dem ein wunderbarer Text von Matthias Jung ("Eine Herde von Individuen" S.32-36) zu finden war, der mich sehr nachdenklich gestimmt hat:
Im Artikel wird sich mit dem Begriff des Individuums auseinander gesetzt und dabei auf ein scheinbares Paradoxon hingewiesen. Wenn wir doch alle Individuen sind, wieso werden wir dann gleichzeitig scheinbar auch gleichförmiger? Wieso werden wir gerade zu einer "Herde von Individuen"? Hierbei wird zunächst die Annahme getroffen, die tatsächlich im modernen Sinne oft so verstanden wird, dass Individualität mit Einzigartigkeit gleichgesetzt wird und wir nach einem moralischen Imperativ handeln, dass diese Einzigartigkeit präsent sein muss. Nun, damit sie präsent sein kann, muss sie performt werden. Sprich, wir benötigen etwas, was wir den anderen als das allein "Meinige" präsentieren können. Wir jagen also nach einem Umstand sei es Erfahrungen, Erfolge etc der uns "unverwechselbar und einmalig" macht. Dieses Vorhaben führt dazu, dass wir also ungewöhnliche Wege beschreiten, sprich bspw. extreme Orte aufsuchen, mit Kleidungs- und Musikstilen experimentieren oder jenes und dieses tun. (Nach Jung: "Schaukästen der Einzigartigkeit") Das Problem erwächst nun daraus, dass wenn solches Verhalten zur Norm für Millionen an Menschen erhoben wird, dass sich ein Paradoxon entwickelt, da die Möglichkeiten zu einer solchen performativen Individualität begrenzt sind. Dies führt zu solchen Phänomenen, dass wir zum tausendsten Mal das "kreative Instagramfoto" sehen oder im überlaufenden "Geheimtipp" unseren Urlaub verbringen. Ergo, der performative Ansatz der Individualität führt uns in ein Gleichförmigkeit, da wir das Besondere bzw. das Einmalige zu erleben versuchen und daran aber stets scheitern, da ein anderer das auch erlebt haben könnte. Dies kann auch seelische Folgen haben, da wir so immer ein Gefühl erwerben, einzigartig sein zu müssen, aber es nicht zu können (Jung nennt das die "Gleichheit der Vielfalt")
Ich möchte zu diesen Gedanken andere ergänzen: Die performative Theorie könnte so erfolgreich sein, da sie uns seit Kindestagen durch Werbung vermittelt wird. Ich erinnere mich bspw., dass ich bei einer meiner Lieblingskindersendungen immer in den Werbepausen mit passgenauer Werbung zugeschüttet wurde, beispielsweise für Zeitschriften mit entsprechender zur Sendung passender Beilage. Ich erinnere mich auch noch grob an die absolute Enttäuschung, als ich realisieren musste, dass die gekaufte Zeitschrift, mir entgegen der Werbung nicht erlaubte mich in die Welt zu begeben, die ich doch so sehr anhimmelte. Es wurde also eine Nachfrage im besten Sinne erschaffen, eine Nachfrage in mir, die ich nicht erfüllen kann, da die Fantasy-Welt halt Fantasy bleiben muss. Also wenn ich die Nachfrage schon nicht tatsächlich decken konnte, was läge dann näher, als so zu tun, als ob und alles so zu performen, als ob ich diesem unerreichbaren Ideal gleichen könnte. Könnte daher dieses Problem stammen oder ist der Gedanke völlig abstrus?
Ach übrigens, Herr Jung stellt der performativen Annäherung eine andere entgegen, die ich mit Kishimis Interpretation verbunden fand: Wahre Individualität erleben wir erst in Harmonie mit der Gesellschaft. Das klingt zunächst ebenfalls paradox, löst sich aber, wenn in der Gesellschaft halt die eigenen Aktivitäten und Erfahrungen ganz unaufgeregt natürlich ausgelebt werden können. Diese mögen dann nicht einmalig sein, aber sie sind unsere. Und damit haben wir die Spannung aufgelöst, denn wir haben das Eigene im Erleben in der Gesellschaft gefunden.
Aber auch das löst Fragen in mir aus: Wieso fühle ich mich dann immer so abgeschnitten von Leuten, wenn doch das Gesellschaftsempfinden derart natürlich sein sollte? Wieso mistraue ich vielen Menschen so sehr? Wieso kann ich nicht wertschätzen, was ich tagtäglich erlebe und mache? ... Ich habe keine gute Antworten darauf, Kishimi würde vielleicht sagen, dass ich es mir so leicht mache, da ich mich so vor Verletzungen (durch andere) schützen kann, Jung vielleicht, dass ich damit meine Grandiositätsfantasien befriedige, und ich daher diese Verhaltensweise als Selbstschutz entwickle. Aber ist das wirklich plausibel? Wenn ich bedenke, dass ich durchaus trotzdem verletzt werde, mich als absolutes Scheißstück von einem Menschen empfinde und zumindest bewusst versuche, nicht (mehr) davor wegzurennen, verletzt zu werden, erscheint mir die Plausibilität zumindest fragwürdig. Also was ist es dann? Oder bin ich einfach zu unfähig?
Kann jemand von euch diese Gedanken nachvollziehen? Was haltet ihr davon?